Der Literaturkritiker und Dichter Nico Bleutge hat für uns „seine“ besten Lyrikdebüts des Jahres 2021 ausgewählt. Er begründet seine Auswahl wie folgt:
Ronya Othmann faltet in ihrem Gedichtband „verbrechen“ (Carl Hanser Verlag) ein Gelände voller Narben auf. Ein „müdes, müdes land“, wie es einmal heißt, das andernorts den Namen Kurdistan trägt. Ihre genau rhythmisierte Sprache löst Grenzen auf und verbindet eigene Erinnerungssuche mit historischer Recherche: „als sähest du dir fotos an, die jemand durch ein / autofenster geschossen hat und in denen sich ein polster, / ein kopf, ein arm im himmel spiegeln“.
Eine Wunderkammer voller Sprachspiele auf den Spuren von Oulipo & Co. – das ist Hannes Fuhrmanns „Wunderschöner Berg“ (poetenladen Verlag). Mithilfe selbstgesetzter Regeln zerlegt er Gedichte von Friederike Mayröcker oder Dagmara Kraus bis auf die letzten Buchstaben – und schafft sich so Material und Raum für eigene Findungen: „dichtes Gestrüpp, Stab Stab, Fehlgestrüpp fingerdick / Dickichtweiß, vom Blatt gelesen: dichtes Schichtweiß“.
Der Titel deutet es schon an: Ingrid Mylo geht in „Überall wo wir Schatten warfen“ (edition AZUR im Verlag Voland & Quist) verdeckten Orten und den blinden Flecken in der Wahrnehmung nach. Dabei nimmt sie bekannte poetische Muster und lädt sie neu auf. Hier können Gedichte den Blick freibrennen, um von Staub zu sprechen, von Müdigkeit und von den Rissen der Liebe – „während die Bilder / zerfallen wie Schmetterlingsflügel“.
Die DebütantInnen lesen aus ihren Büchern und werden von Nico Bleutge dazu befragt.